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Ambivalenz: Innere Vielstimmigkeit als Ressource in Entscheidungsprozessen
Der Begriff Ambivalenz wurde in der modernen Psychologie erstmals von Eugen Bleuler (1911) geprägt und seither insbesondere in der Motiv- und Entscheidungsforschung weiterentwickelt. Er beschreibt einen inneren Zustand, in dem widersprüchliche Gefühle, Motive oder Bewertungen gleichzeitig bewusst erlebbar sind, etwa Zuneigung und Ärger, Loyalität und Kritik oder Mut und Zweifel.
Ambivalenz ist kein Zeichen von Unentschlossenheit oder Schwäche, sondern Ausdruck psychischer Komplexität. Die beteiligten Anteile stehen nicht hierarchisch zueinander, sondern sind gleichwertig. Diese Gleichzeitigkeit kann Spannungen erzeugen, muss aber nicht zwangsläufig aufgelöst werden. Im Unterschied zu vielen mechanistischen Entscheidungskonzepten erlaubt Ambivalenz ein Verweilen im Unklaren, nicht als Blockade, sondern als produktive Zwischenlage.
In der Abgrenzung zur kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) wird dieser Unterschied deutlich. Kognitive Dissonanz beschreibt einen Spannungszustand, der aus einem Widerspruch zwischen Denken und Handeln entsteht und typischerweise als unangenehm erlebt wird. Er erzeugt einen inneren Impuls zur Auflösung, etwa durch Umdeutung, Verdrängung oder Verhaltensanpassung.
Ambivalenz hingegen ist nicht auf Reduktion angelegt. Sie bezeichnet das gleichzeitige Nebeneinander widersprüchlicher Haltungen, ohne dass eine sofortige Entscheidung notwendig wäre. Sie kann über längere Zeit bestehen und wird nicht primär als psychologisches Problem, sondern als reale Vielschichtigkeit des Erlebens verstanden.
Ein Beispiel aus dem Führungsalltag:
Eine Führungskraft steht vor der Frage, ob ein langjähriger, loyaler Mitarbeitender auf eine neue Position versetzt oder aus dem Team herausgelöst werden soll. Einerseits besteht eine persönliche Bindung, geprägt durch gemeinsame Jahre, Vertrauen und Respekt. Andererseits stellt sich die Frage nach Leistungsfähigkeit, Rollenklarheit und strategischer Passung. Die entstehende Ambivalenz ist weder pathologisch noch auflösungsbedürftig, sondern ein Ausdruck der Komplexität dieser Entscheidung.
Führung bedeutet in solchen Situationen nicht, diese Vielstimmigkeit zu übergehen, sondern sie bewusst wahrzunehmen. Wer Ambivalenz reflektiert, kann sie als Ressource nutzen: für ein erweitertes Nachdenken, für den Abgleich mit anderen Perspektiven und für Entscheidungsprozesse, die mehr als nur eine Handlungslogik berücksichtigen.
Quelle:
Bleuler, E. (1911). Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Leipzig: Deuticke.