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Mehr InformationenPsychologischer Vertrag
Psychologischer Vertrag: Wahrgenommene Gegenseitigkeit in der Führung
Der Begriff des psychologischen Vertrags wurde erstmals in den 1960er Jahren durch Chris Argyris eingeführt und später durch Arbeiten von Denise Rousseau (1989) sowie Robinson und Morrison (2000) theoretisch und empirisch weiterentwickelt. Er bezeichnet die Gesamtheit der unausgesprochenen Erwartungen, die zwischen Mitarbeitenden und Organisation bestehen, also das, was jenseits formeller Vertragswerke und Stellenbeschreibungen mitschwingt.
Dieser Vertrag ist nicht schriftlich fixiert, sondern entsteht durch Kommunikation, Beobachtung und Erfahrungen im Arbeitsalltag. Er umfasst subjektive Annahmen über Fairness, Entwicklungsmöglichkeiten, Loyalität oder Flexibilität. Gerade weil er implizit ist, entfaltet er eine hohe Wirksamkeit. Wird der psychologische Vertrag erfüllt, stärkt das die emotionale Bindung, das Vertrauen und die intrinsische Motivation. Wird er verletzt, kann es zu Rückzug, Demotivation oder sogenannter stiller Kündigung kommen, selbst dann, wenn formal kein Regelverstoß vorliegt.
Besonders anfällig sind psychologische Verträge in Phasen organisationaler Veränderung. Neue Arbeitsformen, strukturelle Umbrüche oder Wechsel in der Führung verändern Erwartungen. Diese verändern sich nicht immer synchron auf beiden Seiten. Wenn diese Dynamik unbewusst bleibt, entstehen Irritationen oder stille Konflikte, deren Ursachen nicht ohne Weiteres benennbar sind.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Nach der pandemiebedingten Homeoffice-Phase führt ein Unternehmen wieder Präsenzpflicht ein. Eine Mitarbeiterin, die sich in der Remote-Zeit stark engagiert und Verantwortung übernommen hat, erfährt von der neuen Regelung per Rundmail. Niemand hat mit ihr darüber gesprochen, ob und wie diese Veränderung für sie passt. Sie empfindet das als Vertrauensbruch. Aus ihrer Sicht wurde ein zentraler Aspekt des psychologischen Vertrags verletzt. Das implizite Versprechen von Selbstverantwortung und Vertrauen wurde nicht eingehalten.
Die Führungskraft hingegen zeigt sich irritiert. Aus ihrer Sicht wurde nichts zugesagt, was nun zurückgenommen worden wäre. Genau darin liegt das Missverständnis. Der psychologische Vertrag basiert nicht auf juristischen Festlegungen, sondern auf wahrgenommenen Gegenseitigkeiten. Erwartungen, die unausgesprochen sind, können verletzt werden, ohne dass es einen objektiven Maßstab dafür gibt.
Für Führungskräfte bedeutet dies, wer wirksam führen will, muss den psychologischen Vertrag als wirkmächtiges Bezugssystem erkennen, reflektieren und pflegen. Das gilt besonders in hybriden Arbeitskontexten, in denen Sichtbarkeit, Kommunikation und Vertrauen neu verhandelt werden. Dabei geht es nicht um Absicherung, sondern um Beziehungsklärung. Denn Führung, die den psychologischen Vertrag ernst nimmt, gestaltet nicht nur Strukturen, sondern stärkt Zugehörigkeit und Verlässlichkeit im Wandel.
Quellen
Argyris, C. (1960). Understanding Organizational Behavior. Homewood, IL: Dorsey Press.
Rousseau, D. M. (1989). Psychological and implied contracts in organizations. Employee Responsibilities and Rights Journal, 2(2), 121-139.
Robinson, S. L., & Morrison, E. W. (2000). The development of psychological contract breach and violation. Journal of Organizational Behavior, 21(5), 525-546.